Lara

 

nebel. keuchendes land. aufgehaltene betttücher. angeschwitzte polster-ecken. nebel. irgendwann erschöpft es sich von selbst, fällt der körper in eröpfung nieder. die zeit im begriffe zu verschwinden. das leben erschöpft sich von selbst. ist sich genug. hat sich satt. die zeit als tag aus tag ein ein-warts gehendes verschwinden. das leben verliert sich aus dem griff der zeit.in sich hineingekeuchte zeit. blicke auf das land. geborgenheit suchender und irrer blicke aus sich heraus. asphaltstraße. öliges land. vom leben warmgestreichelte geschwüre. ich bin unter den menschen. irgendwann erschöpft sich das von selbst. die bilder gehen von dannen, wenn es schwarzvor den augen wird. auf die dauer der endlosigkeit eingeschwärzter schlaf hinter den augen. nirgendwo mehr geschlafener schlaf. nebel. ich binstumm. ich lebe nackt. meine nacktheit ist stein. ich lebe in der nacht. meine kleine gute nacht. niemand kann mir folgen. die zeit ist das, was micham leben hält. die zeit ist der kuss. die zeit ist das streicheln. die zeit ist der zweisame atem. ich bin stumm. ich bin das lebewesen, dass seine nacktheitzur schau stellt und sich tief in ihr verhüllt. in der dunkelheit ruht sich meine nacktheit aus. meine kleine gute nacht. ich bin erschöpft von meiner ur-alten nacktheit.

das motoröl versinkt erschöpft und hinterhältig in der kanne aus Aluminium jahrtausendelang verborgen, macht es sich in der kanne hinterhältig breit. auf die dauer der unendlichkeit angehaltener schlaf, der zum ver-schwinden gebracht wird. hilfe suchende versuchen sich zu helfen durch verschiedene arten und weisen des hilfesuchens. hilfe in den straße durchanblicken suchen. jahrelang durch die straßen gehen als dauernd anblickender und dauernd hilfsbedürftiger. bewegungslos werden vor lauterbewegung. auf die pflastersteine treten und fuß um fuß heben. vorwärtsgehen und anblicken. immerzu anblicken. das pflaster verlassen mit dem ei-nen fuß und mit dem anderen fuß zurückkehren auf das pflaster und vom pflaster auf den asphalt treten. auf den schwarzen ausgebreiteten Asphalt in das krankenhaus gehen. frische spitalspolster auf dem spitalsbett. letztes mal stach der schweiß in die nase. besser als der faule atem letzter sprech-versuche von sterbenden. laras bettzeug erst heute früh gewechselt kör-perdampf hatte sie noch nicht belegt. wir begrüßten uns. die zunge gelb-lichweiss belegt. Iara und ich sprachen wenig. wenn wir etwas sprachen, so schien uns das gesprochene, gleich nachdem wir gesprochen hatten, un-sinnig, verlogen, überholt zu sein.

Iara konnte manchmal immer nur schlafen. mir hingegen hat die zeit so vielaufgegeben, dass ich es in dieser zeit, die ich habe, nicht schaffen werde, selbst wenn ich nie mehr schlafen würde. Iara hatte keine zeit mehr, alles zuschaffen, keine zeit, alles gutzumachen. es wurde mit der zeit immer mehr ich versuchte zu weinen. ich schlug im gedanken die betttücher auf undsa die würmer. werden wir uns von angesicht zu angesicht sehen, erst wenn wir unter dem pflaster verschwunden sind?auf dem plastiktischchen neben ihrem bett stand ein tasse mit kaltem tee gestern, heute und morgen wird sie in ihrem bett zu bett gehen, dachte ich.ich bin ein tier. ich bin ein tier, das durch die strassen rennt ein tier das auf der hut ist, ein tier, das auf futtersuche ist. ich laufe aus dem Wald heraus und ich laufe in den wald hinein. durch witze und durch kriege wird ver-sucht die sprache zu überlisten. mein leben entstand in der dunkelstenkammer voll mit absonderlichen pochenden und gurgelnden und grölen- den geräuschen, und als ich aus der kammer draussen war, war ich froheine andere sprache zu hören, aber mit der zeit entdeckte ich, dass es in der sprechenden welt nicht weniger absonderlich und gurgelnder und pochen-der und grölender zuging. ich bat die schwester, den tee vom weissen plastiktischchen zu entfernen, um mir selbst zu versichern dass ich noch fähigwar, einen satz aus meinen mund herauszubringen.

als ich Iara traf, war sie schon alt. und ich wusste nichts von dem ganzen das sie getan hatte und das ihr angetan worden war. morgen werde ich durch die straßen gehen und leute anblicken und wahllos und frech umetwas bitten, um eine filterzigarette oder um ein paar zehngroschenstücke. als ich Iara traf, lernte ich ihren schönen kleinen garten kennen den siesorgfaltig bepflanzte mit petersilie, sellerieknollen, luststock, gurken, erdäpfel, paradeiser, diile, endiviensalat, erdbeeren, häupelsalat, zucchini, rha-barber und möhren. den sellerie befreite sie von der erde. den Rhabarber befreite sie vom blatt, schnitt ihn in der mitte entzwei, steckte alles in einenplastiksack und schenkte es mir. sie war von einer zurückhaltenden, aber großzügigen freundlichkeit. wenn sie einmal nicht zu dieser freundlichkeitaufgelegt war, ließ sie sich gar nicht erst blicken, kam nicht aus ihrem kleinen haus heraus. ihr garten war wild. er ließ selbst in der nacht etwas vongeborgenheit spüren. oberhalb des gartens war eine am tag stark befahre-ne straße. in der nacht fuhr fast nichts auf dieser straße. nur zusammenge-quetschte katzenkadaver zeugten am morgen von autos. die blumen imgarten waren noch immer bunt und das gemüse war immer noch grün odergelb oder weiss oder rot. Iara war grau geworden.ich blieb nie länger als eine stunde bei Iara. bevor ich ging, nach einem sol-chen schweigenden besuch, legte ich meine hand auf ihre hand und dach-te mir: ich bin der wind. obwohl wir miteinander nichts sprachen, war Iaranicht stumm. mit ihren enkelkindern, die sie besuchen kamen, schwatztesie, wie sie einmal sagte. wenn sie kamen, setzten sie sich in rudeln ans bett und zogen ihre mäntel nicht aus. die enkelkinder hatten ihre eigenen probleme und selbst zu tun, und sie gingen ihre eigenen wege, und sie warenihre eigenen damen und herren, und niemand sollte sie dabei stören, dasauszubaden, was sie getan hatten und was man ihnen angetan hatte. siehatten noch eine menge zeit vor sich und wollten es besser machen als gutgenug, und das ist immer schon mehr als zu viel gewesen. sie wolltendurchkommen in dieser welt und gut durchkommen noch dazu, und dabeikonnte ihnen, wie sie meinten, Iara nicht helfen, Iara, die selbst nichts mehrausbaden konnte.ich sah in laras von geschwüren vernarbtes graues gesicht. ich sah, wie diegeschwätzigkeit meines gehirns über meine hand in ihre hand gezogenwurde, und ich verschwand mit einem langen seufzer mit ihr durch dasfenster. ich durchbrach eine nebelwand, und ich trug Iara auf meinen schoßweit hinauf zu den obersten zweigen der riesigen birkenbäume. ich nahm ihre hände und ließ sie die spitzen der blätter mit ihren fingerspitzenspüren. so flogen wir stundenlang dahin, streichelten die blätter und rochen an den tiefen kerben der rinde. ich bin der wind, dachte ich mir. morgen werde ich zurück kommen. die nacht ist laras morgen.

nachdem ich mich auf diese weise verabschiedet und meine hände langsavon den ihren gelöst hatte, ging ich aus dem krankenhaus hinaus auf diestraße. viele waren unterwegs. ich versuchte, in die gesichter zu blicken — in gesichter, die zielstrebig auf dem weg waren vom büro ins kaufhaus undvom kaufhaus in die bank, vom geschäft zum begräbnis und vom begräb-nis ins hotel. ich wollte über ihre zielstrebigen gesichter eindringen, ihreinteressen durchschneiden und sie bei ihren verrichtungen stören. ich wollte mit meinen blicken ihre frisuren und zöpfe und ihre mittelscheitel undigelköpfe und ihre haarspangen und haarschwänze und ihre glitzerglatzenund schaumgesichter und ihre schlafdämonen und migräneteufel und ihrehirnspulen durchdringen und eindringen in ihre köpfe. Ich wollte ihre gehirne begatten mit scnweren und keuchenden stößen, damit alte bilder zuneuen worten würden und alte worte verschwinden und neue bilder kommen könnten. ich wollte sie übers pflaster in den Wald schleifen. lch habesie nicht einmal um eine filterzigarette gebeten.

in der nacht nach diesem besuch wachte ich um vier uhr dreiundreißig inmeinem bett in dem kleinen zimmer, in dem ich wohnte, auf. ich kannte jede kleine ecke. die türen waren fest versperrt. ich erschrak, wie still es war.ich erschrak, wie laut und raunend der soeben geschlafene schlaf gegen diese stille war. ich erschrak so, dass ich mich in alle meine zellen verkrie-chen wollte. es kam mir die erinnerung an die nachtdienste in einem kinderspital. wie ich durch die gänge an den zimmern vorüberging. der schlafder kinder war in der stille der nacht wie ein wilder und unbändiger Zirkus des lärms und der qualen. selbst die knochen der schlafenden schienen zuknirschen wie die mäste eines auf dem meer verlorenen schiffes. ich hatte angst aufzustehen, sowie ich angst hatte, noch einmal in diesen schlaf zufallen. ich blieb wach. am morgen machte ich mich auf den weg ins krankenhaus, um lara zu besuchen, doch lara war verschwunden.